Montag, 9. Juli 2012

Die Stunden nach der Geburt (Teil III)

Man hatte uns bereits im Kreißsaal mitgebracht dass er nicht auf die Frühchen-Station sondern aus Vorsichtsmaßnahme auf die Kinder-Intensivstation gebracht wurde. Und weil es mir zwar super ging, der Weg zur Intensivstation doch recht weit war, hat mich Stefan mit einem Rollstuhl zu Purzel gebracht.

Man hat uns sofort in Empfang genommen und zu seinem Bett gebracht. Die anderen Betten, Eltern, Babys und Maschinen habe ich überhaupt nicht wahrgenommen. Ich habe nur das Bett von meinem Purzel gesehen. Er lag auf dem Bauch, eine Mütze auf dem Kopf an der die Beatmung befestigt war, angeschlossen an Infusionen und Kabel. Der Assistenzarzt hat uns gesagt dass er auf dem Bauch liegt weil er sich so mit dem Atmen leichter tut, man ihn aber dennoch intubieren musste, er also großteils beatmet wird. Er meinte, es ginge ihm soweit gut, man hätte allerdings (und hält ein Röntgenbild hoch) beim obligatorischen Legen einer Magensonde festgestellt dass seine Speiseröhre nicht bis zum Magen geht. Alles weitere würde uns aber der Chirurg erklären. 
CHIRURG?!?!
Dieser eine Satz über die Magensonde, das Röntgenbild, die Speiseröhre und den Chirurgen... der hat unser Leben verändert. Innerhalb einer Sekunde hat sich alles geändert. In mir ist eine Welt zusammen gebrochen. Ich hab mich um Fassung bemüht und gefragt: "Chirurg. Muss man ihn aufmachen?"
Ich kann mich an die Antwort nicht mehr erinnern. Aber es war auch egal. Denn auch ohne die Antwort war klar dass operiert werden würde. Die Tragweite konnte ich allerdings nicht fassen. Bis der Chirurg eingetroffen ist, sind Stunden vergangen. Stunden, die wir bei Purzel am Bett verbrachten. Ich hab seine klitzekleine Hand gehalten und der Lieblingsmann hat mich gehalten. Sonst wäre ich in der Mitte zersprungen. Plötzlich hatte ich die größten Schuldgefühle. Ich freue mich über eine leichte Geburt während mein Sohn mit dem Leben kämpft. Bin ich schuld? Warum hat man das nicht gesehen? Viele Fragen. Aber vor allem Angst. Ich bat meinen Lieblingsmann, Fotos von ihm zu machen. Denn... aussprechen konnte ich es nicht... aber gedacht habe ich: damit wir ein Foto haben wenn er die OP nicht schafft. 

Irgendwann, ich hielt Purzels Hand, kam ein Seelsorger zu uns und fragte ob wir das mit dem Jonas seien. Wir nickten und der Seelsorger setzte an dass es ihm sehr leid tun würde und... 
Alles mit diesem Trauer-Abschieds-Seelsorger-Blick. In meinem Kopf war sofort der Gedanke dass man uns jetzt einen Seelsorger schickt, der uns darauf vorbereiten soll dass er die OP nicht überlebt. Dann schaute er aber nochmal auf die Karte an Jonas' Bett, auf der Geburtstag und alle anderen Daten standen. "Ach, der Jonas ist erst heute geboren worden..."
Und am Bett neben uns haben zwei Eltern, die ich dann zum ersten Mal wahrgenommen habe, den Seelsorger zu sich gerufen. Es stellte sich einige Tage später heraus dass die Eltern, die viele Wochen mit uns auf der Intensivstation verbracht haben, Zwillinge bekommen haben. Sehr viel zu früh. Und einer der beiden Brüder, Jonas, in der Nacht als unser Sohn operiert wurde, verstorben ist. Der Seelsorger hat die Familie begleitet und den Kleinen noch in der Nacht getauft. 

Unsere Eltern haben wir auch nach dieser Nachricht noch immer nicht angerufen. Wir wollten auf das Gespräch mit dem Chirurgen warten, den man für Jonas in die Klinik geholt hat. 
Als der Arzt, Dr. K, am Nachmittag endlich da war, ging er mit uns in ein klitzekleines Zimmer und hat uns knallhart, ehrlich und ohne Fachchinesisch erklärt, was Jonas hat, was uns bevor steht und wie ernst die Situation ist. 
Er würde Purzel noch am gleichen Abend operieren. Weil man erst nach dem Öffnen des Brustkorbes sehen könnte, welcher Typ der Ösophagusatresie vorliegt, kann die OP fünf Stunden oder 10 Stunden dauern. Es kann sein dass die Fehlbildung mit einer Operation nicht zu beheben ist, es könnte... es könnte... es könnte. Viele viele Unsicherheitsfaktoren. Er klärte uns darüber auf dass Babys mit ÖA meist einige weitere Fehlbildungen haben. Herzfehler, Darmfehlbildungen, Fehlbildungen an Armen und Beinen, Fehlbildungen der Wirbelsäule. Die Liste war lang. Dies alles würde im Anschluss an unser Gespräch sofort nach Möglichkeit untersucht werden um evtl. in einer OP gleich mehrere Baustellen gleichzeitig anzugehen. 
Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich konnte das einfach nicht glauben. Wenige Stunden zuvor war ich Mama geworden und jetzt war plötzlich die Welt stehen geblieben. 

Wir kannten Dr. K erst wenige Minuten. Aber wir hatten ein Vertrauen in diesen Menschen, wie ich es vorher noch nie hatte. Er hatte das Leben von meinem Purzel in seinen Händen. Und ich hab ihm vertraut. 

Erst nach diesem Gespräch hat der Lieblingsmann unsere Familien angerufen. Weitere Welten brachen zusammen. Aber alle haben sich tapfer geschlagen. Meine Schwiegereltern waren die ersten, die bei uns auf der Intensivstation ankamen. Wir haben geweint, uns gegenseitig getröstet. 
Nach dem Gespräch mit dem Anästhesisten sind wir zurück auf die Gynäkologische Station um in ein anderes Zimmer zu ziehen das uns Dr. K organisiert hat. Er wollte dass wir einen Rückzugsort für uns als Familie zu haben. Dort haben wir unseren Familien (die Hälfte meiner Familie war zwischenzeitlich auch eingetroffen) nochmal alles in Ruhe erklärt.

Wir hatten die Information, Purzel würde gegen 18.30 Uhr in den OP gebracht werden. Und weil wir trotz der Anspannung körperlich einfach nicht mehr konnten, haben uns unsere Familien allein gelassen und wir haben zwei Stunden etwa geschlafen. Als wir aufgewacht sind, sind wir sofort rüber auf die Intensivstation um Purzel in den OP zu verabschieden. 
Aber als uns die verantwortliche Schwester in Empfang nahm, erklärte sie uns dass er schon um 17 Uhr für die OP abgeholt wurde. Natürlich war ich enttäuscht. Aber gleichzeitig unglaublich erleichtert. Zum einen ist mir ein schwerer Abschied erspart geblieben und zum anderen waren bereits fast zwei Wartestunden um ohne dass wir es bemerkt haben. 

Es galt also zu warten. Dr K hat uns im Gespräch gesagt, er würde nicht aus dem OP kommen um Zwischenmeldungen zu geben. Er würde sich die folgenden Stunden einzig und allein auf die vier Zentimeter große Öffnung konzentrieren und unseren Sohn operieren. 
In unserem Zimmer entstand so etwas wie Galgenhumor. Wir haben uns alte Geschichten erzählt, die eigentlich jeder von uns schon x Mal gehört hat. Aber so konnten wir uns ganz gut ablenken.

Um ca. 1 Uhr nachts - ich war gerade beim Abpumpen - hab ich Dr. Ks Stimme auf dem Gang gehört. 
Er wirkte fast genauso erschöpft wie wir und sagte: "Es ging alles gut. Die fehlende Verbindung von der Speiseröhre zum Magen konnte verhältnismäßig schnell geschlossen werden. Allerdings habe ich über eine Stunde gebraucht um das Loch in der Luftröhre zu schließen. Ich habe Rückenschmerzen, und sie wollen zu ihrem Sohn. In ungefähr einer Stunde können sie zu ihm rüber".
Ich habe sofort wieder geweint und ihn gefragt ob ich ihn umarmen darf. 

Als ich schnell abgepumpt habe, hat Stefan unsere Familien im Zimmer informiert, die alle vor Erleichterung geweint haben. Die erlösende, gute Nachricht wurde gleich an meinen Papa übermittelt, der mit meiner kleinen Schwester Zuhause auf unseren Anruf gewartet hat. Und dann haben alle den Heimweg angetreten. 

Ich habe mich darauf eingestellt, einen kleinen Spatz im Bett zu finden, der von der OP stark gebeutelt ist. Aber er war weder mit blauen Flecken überseht noch hatte er Zeichen einer schlechten Sauerstoffsättigung. Viele Apparate standen um das Wärmebett und eine ganze Batterie an Infusionen standen waren aufgebaut. Man hat uns die Geräte erklärt und erzählt wie es ihm geht. Wir durften ihn noch ein bisschen im Bettchen halten und gingen irgendwann zurück zu unserem Zimmer um am nächsten Tag ganz früh unser neues Leben zu beginnen. 
Das Leben von Eltern, deren Baby auf der Intensivstation liegt. 

Purzel hatte die OP zwar gut überstanden, doch ausgestanden war dennoch noch lange nicht alles. Er wurde nach wie vor beatmet, hat aber kontinuierlich Fortschritte gemacht. Er hat 24 Stunden am Tag geschlafen um sich zu erholen. Er bekam starke Schmerzmittel und wurde mit Infusionen aufgepäppelt. Selbst trinken konnte er natürlich noch nicht. Doch bereits am zweiten Tag hat er die wenige abgepumpte Milch über die Magensonde bekommen und auch gut vertragen. 
Die Magensonde diente in seinem Fall nicht nur als Ernährungsweg sondern war auch eine innere Stütze der operierten Speiseröhre. Erst am 10. Tag nach der OP sollte ein Brei-Schluck zeigen ob die OP erfolgreich war und die Röhre dicht ist. 

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